Leitfaden: „Arbeit und Rückkehr in Arbeit mit körperlicher oder seelischer Beeinträchtigung im Kleinbetrieb“
Dieser Leitfaden soll Geschäftsinhaber:innen, Führungskräften und von chronischer Krankheit Betroffenen in Betrieben mit weniger als 50 Beschäftigen eine Hilfestellung geben.
Es finden sich viele Beispiele einer guten betrieblichen Praxis gelingender Wiedereingliederung und zugleich viele Beispiele für die überbetrieblichen Beratungs- und Unterstützungsmöglichkeiten. So werden zum Thema „psychische Erkrankungen“ beispielhaft telefonische Beratungshilfen und Zugangsmöglichkeiten im Hilfesystem aufgelistet, die von Betroffenen wie von Betrieben genutzt werden können. Insgesamt soll der Leitfaden – sowohl für Betriebsinhaber/innen wie für chronisch Erkrankte – Mut machen, nicht am Problem „chronische Krankheit“ zu verzweifeln, sondern das Problem anzupacken und sich die nötige Hilfe von außen zu organisieren.
Inwiefern ist der Arbeitsschutz für die Bedarfe von chronisch kranken Beschäftigten zuständig?
Ziel des Arbeitsschutzes ist es, die Gesundheit von Beschäftigten zu erhalten. Zudem ist ein funktionierender präventiver Arbeitsschutz gut für die ganze Belegschaft eines Betriebes. Der betriebliche Arbeitsschutz hat darüber hinaus einen besonderen Schutzauftrag für Beschäftigte, die in ihrer körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheit bereits eingeschränkt sind.
Ziel des Arbeitsschutzes ist es, die Gesundheit von Beschäftigten zu erhalten. Durch sichere und menschengerechte Arbeitsbedingungen sollen Arbeitsunfälle, Berufskrankheiten und arbeitsbedingte Gesundheitsgefährdungen vermieden werden. Dieses Recht auf Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit ist für alle Beschäftigten in §1 des Arbeitsschutzgesetzes verankert und wird durch weitere Rechtsgrundlagen im staatlichen und berufsgenossenschaftlichen Arbeitsschutz konkretisiert. Bezüge gibt es zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (Art. 2 Abs. 2) und zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Art. 31). Bei der Ausgestaltung des betrieblichen Arbeitsschutzes sind Arbeitgeber verpflichtet, Maßnahmen „unter Berücksichtigung der Umstände zu treffen, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit beeinflussen“ und sie „erforderlichenfalls sich ändernden Gegebenheiten anzupassen“ (§3 ArbSchG).
Chronisch kranken Beschäftigten hilft gut funktionierender präventiver Arbeitsschutz für die gesamte Belegschaft. Haben Betriebe insgesamt eine robuste, anpassungsfähige und auf Prävention ausgerichtete Arbeitsschutzorganisation, werden gesundheitsgefährdende Arbeitssituationen insgesamt minimiert. Dann sind viele „Sondermaßnahmen“ zur Arbeits(platz)gestaltung für Menschen mit chronischen Erkrankungen und/oder Behinderungen nicht mehr notwendig. Erkrankungen müssen seltener offengelegt werden, einige arbeitsmedizinische Untersuchungen oder Begutachtungen können sich erübrigen und es werden weniger sensible Daten gespeichert. In einem solchen Umfeld gibt es weniger Anlass für chronisch erkrankte Beschäftigte, gesundheitsschädliche Arbeitssituationen aus Sorge um ihren Arbeitsplatz oder Benachteiligungen zu erdulden und größere Spielräume für Anpassungen der Arbeitsabläufe, Arbeitszeiten und Pausen an individuelle Bedarfe.
Der betriebliche Arbeitsschutz hat darüber hinaus einen besonderen Schutzauftrag für Beschäftig-te, die in ihrer körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheit bereits eingeschränkt sind. Da-mit sind nicht nur Erkrankungen angesprochen, die aus Arbeitsbedingungen und (Fehl-)Beanspruchungen resultieren und möglicherweise als Berufskrankheiten anerkannt sind. Es geht auch um „angeborene“ oder außerhalb der Erwerbsarbeit erworbene Einschränkungen sowie Ge-sundheitsprobleme, die sich aus Wechselbeziehungen von Privatleben und Erwerbsarbeit ergeben haben. Nach §4 ArbSchG müssen Arbeitgeber spezielle Gefahren für „besonders schutzbedürftige Beschäftigtengruppen“ berücksichtigen. Zu diesen Gruppen gehören zweifelfrei Menschen mit Schwerbehinderung oder ihnen gleichgestellte Personen, die in ihrer beruflichen Teilhabe nachhal-tig eingeschränkt sind. Aber auch Menschen mit einem GdB unter 50 sowie Menschen mit chroni-schen Erkrankungen sind vulnerable Personengruppen im Sinne des § 4 Nr. 6 ArbSchG, erst recht vor dem Hintergrund der auf Prävention und Teilhabe gerichteten Vorgaben des SGB IX (u.a. Busch/Kohte 2022) . Nach §7 ArbSchG müssen Arbeitgeber bei der Übertragung von Aufgaben an Beschäftigte je nach Art der Tätigkeiten berücksichtigen, ob diese befähigt sind, die entsprechen-den Bestimmungen und Maßnahmen für Sicherheit und Gesundheitsschutz einzuhalten. Ggf. sind für chronisch erkrankte Beschäftigte zusätzliche personenbezogene Arbeitsschutzmaßnahmen not-wendig, die auf ihre Fähigkeiten und gesundheitlichen Voraussetzungen abgestimmt sind. Der be-triebliche Arbeitsschutz kann daher einen signifikanten Beitrag dazu leisten, dass chronisch Erkrank-te – wenn sie dies wollen – länger und in größerem Umfang erwerbstätig sein können („stay at work“). Er kann, z.B. durch die Anpassung von Arbeitsplätzen und -anforderungen, auch die Rückkehr in Erwerbsarbeit unterstützen („return to work“).
Wobei kann der betriebliche Arbeitsschutz helfen?
Arbeitsbedingungen sollen so gestaltet sein, dass sie die Gesundheit und das Arbeitsvermögen von Beschäftigten möglichst gut erhalten oder wiederherstellen. Das betrifft:
- die Einrichtung von Arbeitsstätten und Arbeitsplätzen, die dortigen physikalischen, chemischen und biologischen Bedingungen und psychischen Belastungen,
- den Einsatz von Arbeitsmitteln sowie die Gestaltung von Arbeits- und Fertigungsverfahren,
- die Gestaltung von Arbeitszeit und die Qualifikation der Beschäftigten.
Für alle diese Bedingungen ist zu prüfen, ob sie auch für die Beschäftigten mit chronischen Erkrankungen dauerhaft ein sicheres und gesundes Arbeiten erlauben. Notwendige Anpassungsmaßnahmen konzentrieren sich erfahrungsgemäß in folgenden drei Feldern.
Typische Fragen
Sind Arbeitsaufgaben und -abläufe auf die gesundheitliche Situation der Beschäftigten so abgestimmt, dass weder Über- noch Unterforderung auftritt? Sind sie qualifikationsgerecht? Sind zusätzliche Erholungsbedarfe und Urlaubsansprüche in den Arbeitsplanungen berück-sichtigt? Gibt es robuste Vertretungs- oder Unterstützungskonzepte für gesundheitsbedingte Ausfälle?
Mögliche Maßnahmen u.a.
„realistische“ Personalplanung, gesundheitsgerechte Vergabe von Arbeitsaufträgen, Flexibilisierung von Arbeits- und Pausenzeiten, Ermöglichung von Home-Office, Vermeidung von Großraumbüros, Festlegung von Kommunikationswegen für Überlastungssituationen, Fort-bildung von Kolleg*innen zur Erleichterung von kurzfristigen Vertretungen
Typische Fragen
Sind Arbeitsmittel und Arbeitsplatzergonomie an die gesundheitlichen Voraussetzungen aller Beschäftigten angepasst? Sind Arbeitsplätze, Pausenräume, sanitäre Einrichtungen etc. für alle Beschäftigten erreichbar und nutzbar? Sind etablierte Kommunikationsmedien und -formen im Betrieb für alle Beschäftigten zugänglich und funktional?
Mögliche Maßnahmen u.a.:
technische Hilfen am Arbeitsplatz, technische Umgestaltung von Arbeitsplätzen, Arbeitsas-sistenz, Einsatz von Kommunikationshilfen, Umstellung von Kommunikationsroutinen und -medien
Typische Fragen
Sind Unterweisungen am Arbeitsplatz wirklich für alle Beschäftigten zugänglich und ver-ständlich? Funktionieren technische und organisatorische Sicherheitssysteme für alle (Ver-fügbarkeit von passender Schutzkleidung, Notausschaltsysteme von technischen Anlagen etc.)? Können Alarmsignale von allen Beschäftigten wahrgenommen werden? Wie können im Notfall Fluchtwege und Notausstiege auch von Menschen mit gesundheitlichen Einschrän-kungen genutzt werden? Sind Evakuierungshelfer ggf. über besondere Voraussetzungen informiert?
Mögliche Maßnahmen u.a.:
Nutzung angepasster Kommunikationssysteme und Medien für Unterweisungen, Umbau von Türen und Räumen, angepasste Alarmsysteme (z.B. optische und akustische Signale), Nachrüstung von Maschinen, individuelle Anpassungen der persönlichen Schutzausrüstung (PSA), Vermeiden von Alleinarbeit, Notfallpläne unter Beachtung von Behinderungen und Erkrankungen
Verantwortliche im betrieblichen Arbeitsschutz und ihre Aufgaben
Im betrieblichen Arbeitsschutz gibt es einige zentrale Funktionen, deren Aufgaben gesetzlich geregelt sind und die es in jedem Betrieb geben muss (Insbesondere bei Arbeitsmedizinern kann die Aufgabenerfüllung auch durch betriebsexterne Personen oder beauftragte Firmen gewährleistet sein.). Diese Funktionsträger sind im Rahmen ihrer Aufgaben auch für die Gestaltung der Arbeit und des Arbeitsumfeldes von chronisch kranken Beschäftigten zuständig. Weitere Grundinformationen finden Sie unter Sicher und gesund arbeiten: Arbeitsschutz in Deutschland – das Wichtigste im Überblick vom LIA NRW.
Arbeitgebende sind in ihrem Betrieb verantwortlich für die Einhaltung der rechtlichen Vorgaben und die Durchführung aller erforderlichen Arbeitsschutzmaßnahmen. Sie können nach § 13(2) ArbSchG Vertreter*innen mit den sich daraus ergebenden Pflichten beauftragen, bleiben aber auch dann in der Gesamtverantwortung. Wichtige Aufgaben sind:
- geeignete Organisation des Arbeitsschutzes
- Fachkraft für Arbeitssicherheit und Betriebsärzt*innen bestellen
- persönliche Schutzausrüstung (PSA) für die Beschäftigten bereitstellen
- Fortbildung ermöglichen, Unterweisungen sicherstellen und Betriebsanweisungen vorhalten
- Erste Hilfe, Brandbekämpfung und Evakuierung organisieren
- die mit der Arbeit verbundenen Gefährdungen für Beschäftigte ermitteln sowie entsprechende Arbeitsschutzmaßnahmen festlegen und umsetzen (Gefährdungsbeurtei-lung), Arbeitsschutzausschuss einberufen (nach ArbSchG, Zweiter Abschnitt)
Für chronisch kranke Beschäftigte insbesondere: über die Führungskräfte (möglichst regelmäßiger) Austausch über Arbeitsaufgaben und -anforderungen, Arbeitszeiten, Pausen sowie weitere Arbeitsbedingungen; ggf. Unterstützung bei Arbeitsplatz- und Aufgaben-anpassungen; Festlegung von Kommunikationsregeln und -medien im Team
Fachkräfte für Arbeitssicherheit unterstützen Arbeitgebende beim Arbeitsschutz und bei der Unfallverhütung in allen Fragen der Arbeitssicherheit einschließlich der menschengerechten Gestaltung der Arbeit. Wichtige Aufgaben sind:
- Beratung bei der Planung und Unterhaltung von Betriebsanlagen, bei Arbeitsmitteln, Arbeitsverfahren und Arbeitsstoffen, Körperschutzmitteln, der Gestaltung der Arbeitsplätze, Arbeitsabläufe, Arbeitsumgebung sowie der Beurteilung der Arbeitsbedingungen
- Prüfen von Arbeitsverfahren, Betriebsanlagen und Arbeitsmitteln
- Kontrollieren der Arbeitsstätten, der Benutzung von Körperschutzmitteln und Unter-suchen von Arbeitsunfällen
- Hinwirken auf sicherheitsbewusstes Verhalten der Beschäftigten (nach Arbeitssicherheitsgesetz (ASIG) §6; siehe auch DGUV Vorschrift 2)
Für chronisch kranke Beschäftigte insbesondere: lfd. Prüfungen, ob Notfallmaßnahmen und Betriebsorganisation dem Gesundheitszustand aller Beschäftigten gerecht werden (ggf.in Zusammenarbeit mit Betriebsärzt*innen); Erfassung und Bewertung von Gesundheitsgefährdungen und Ableitung notwendiger Maßnahmen (ggf.in Zusammenarbeit mit Betriebsärzt*innen); Bereitstellung fachlicher Informationen zu technischen und organisatorischen Gestaltungen des Arbeitsplatzes, zum Einsatz von Hilfsmitteln, zu alternativen Verfahren, Arbeitsstoffen, Schutzausrüstungen etc.; Hilfe bei der Planung, Beantragung und Beschaffung von Hilfsmitteln und alternativen Ar-beitsmitteln; mögliche Beteiligung in BEM-Verfahren.
Betriebsärzt*innen unterstützen Arbeitgeber beim Arbeitsschutz und bei der Unfallverhütung in allen Fragen des Gesundheitsschutzes.
Wichtige Aufgaben:
Beratung des Arbeitgebers, v.a. bei der Planung und Unterhaltung von Betriebsanlagen, bei Arbeitsmitteln, Arbeitsverfahren und Arbeitsstoffen, der Gestaltung der Arbeitsplätze, Arbeitsabläufe, Arbeitsumgebung, bei der Beurteilung der Arbeitsbedingungen und der arbeitsmedizinischen Vorsorge sowie bei der ersten Hilfe und sonstigen Notfallmaßnahmen
Durchführung von arbeitsmedizinischen Untersuchungen der Beschäftigten und entsprechender Beratung sowie Auswertungen der Untersuchungsergebnisse, um den betrieblichen Arbeits-schutz zu verbessern (nach Arbeitssicherheitsgesetz (ASIG) §3; siehe auch DGUV Vorschrift 2 sowie Arbeitsmedizinische Vorsorgeverordnung (ArbMedVV))
Für chronisch kranke Beschäftigte insbesondere: medizinische Begründung notwendiger Schutz- bzw. Arbeitsgestaltungsmaßnahmen (z.B. Einsatz von besonderen Arbeitsmitteln, Ausschluss von Nacht- und Schichtarbeit etc.); arbeitsmedizinische Einzelfalluntersuchung und -beratung v.a. im Rahmen der arbeitsmedizinischen Wunschvorsorge auf Initiative der Beschäftigten; mögliche Beteiligung in BEM-Verfahren
Betrieblicher Arbeitsschutz und Betriebs- und Personalräte
- Pflicht von Betriebsärzt*innen und Fachkräften für Arbeitssicherheit zur Zusammenarbeit und fachlichen Unterrichtung des Betriebs- oder Personalrates (§9 ASIG),
- Beratungspflicht im Themenfeld Arbeitsschutz und Unfallverhütung gegenüber dem Betriebs- oder Personalrat (§9 ASIG),
- Mitbestimmungs- und Anhörungsrechte des Betriebs- oder Personalrates bei der Ernennung von Betriebsärzten und Fachkräften für Arbeitssicherheit bzw. bei der betriebsexternen Vergabe dieser Aufgaben (§9 ASIG),
- Mitbestimmungsrechte des Betriebs- oder Personalrats im Arbeitsschutz, in der Unfallverhütung sowie bei der Gestaltung der Arbeitsbedingungen und -prozesse (§ 87 BetrVG),
- Mitbestimmungsrechte des Betriebs-/Personalrats bzgl. der Erstellung einer (rechtlich vorgeschriebenen) Gefährdungsbeurteilung (§ 87 BetrVG),
- Beteiligung des Betriebs- oder Personalrats im Arbeitsschutzausschuss (ASA) (§11 ASIG)
Betrieblicher Arbeitsschutz und Schwerbehindertenvertretung
- keine rechtlich geregelte Zusammenarbeit, eher freiwillige themenbezogene Kooperation
- Recht – nicht Pflicht – der SBV auf beratende Teilnahme und Protokolleinsicht im Arbeitsschutzausschuss (§178 SGB IX)
- mögliche Einbeziehung von Betriebsärzten in BEM-Verfahren (nach §167 SGB IX) oder in die Vorbereitungen von Inklusionsvereinbarungen (nach §166 SGB IX)
Betrieblicher Arbeitsschutz und Mitwirkungspflichten der Beschäftigten
Beschäftigte sind zur Mitwirkung im betrieblichen Arbeitsschutz verpflichtet. Das betrifft vor allem:
- die Teilnahme an Unterweisungen,
- die Beachtung von sicherheitsrelevanten Weisungen des Arbeitgebenden,
- die Beachtung der Sicherheit und Gesundheit von Kolleginnen/Kollegen,
- die bestimmungsgemäße Verwendung von Maschinen, Werkzeugen, Arbeitsstoffen, Transportmitteln, Schutzvorrichtungen und persönlicher Schutzausrüstung,
- die Meldung von Gesundheitsgefahren,
- die Unterstützung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes bei der Arbeit sowie
- die Zusammenarbeit mit Arbeitgebenden, Fachkräften für Arbeitssicherheit und Betriebsärzt*innen (gesetzliche Grundlage: v.a. ArbSchG §§15,16)
Beschäftigte müssen bei drohender Eigen- oder Fremdgefährdung die Arbeitgebenden über ihre gesundheitlichen Einschränkungen (nicht ihre Diagnose oder gar Krankheitsprognose!) informieren.